Thomas Rödls Rede auf dem Ostermarsch 2022 in München

Hallo, ich begrüße Sie zum diesjährigen Ostermarsch der Friedensbewegung!

Unser Motto: Nein zum Krieg! Verhandeln statt schießen!

Seit 7 Wochen tobt jetzt der Krieg in der Ukraine.

Wir verurteilen den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine! Wir fordern den Rückzug aller russischen Truppen! Wir protestieren gegen die imperialistische und militaristische Großmachtpolitik des russischen Präsidenten! Wir fordern die Kriegsparteien auf, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, und über eine politische Lösung zu verhandeln!

Ich möchte zunächst von einem Thema sprechen, das in der öffentlichen Diskussion leider keine Rolle spielt: Atomwaffen.

Der Ostermarsch heute steht in der Tradition der Ostermärsche der Atomwaffengegner ab ca. 1960. Wir leben immer noch im Atomzeitalter, es gibt diese Atomraketen mit interkontinentaler und sonstiger Reichweite, Flugkörper aller Art, vom Boden, vom U-Boot oder vom Flieger aus abgefeuert. Ist das schon vorbei? Leider nein. Ich habe den Eindruck, viele Menschen merken jetzt gerade wieder, dass wir im Zeitalter der Atomwaffen leben. Plötzlich ist der Atomkrieg, die Möglichkeit eines Atomkrieges wieder präsent.

Vor ca. 60 Jahren war die sog. Kuba-Krise. Die Sowjetunion hatte angefangen Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren. Entfernung Havanna nach Washington: 1700 km (Referenzwert Berlin – Moskau 1600 km). Zuvor hatten die USA aber Mittelstreckenraketen in der Türkei, Großbritannien und Italien stationiert. Allgemein bekannt ist: Die Welt stand kurz vor einem Atomkrieg. Die USA konnten nicht akzeptieren, dass die feindlichen Vernichtungswaffen so dicht vor ihrer Hauptstadt stationiert wurden. Sie haben die sowjetischen Militärs genötigt, die Raketen in Kuba wieder abzubauen. Im Gegenzug haben die USA zugesagt, ihre Mittelstrecken Atomraketen aus Europa abzuziehen.

Das ist weniger bekannt.

Für knapp 20 Jahre galt die stillschweigende Vereinbarung, dass die USA keine Atomwaffen in Europa stationiert haben, die sowjetisches Territorium erreichen können.

Dann kam die sog Nachrüstung mit Pershing 2 Raketen und Marschflugkörpern, in der BRD, Großbritannien und Italien. Die Pershing 2 Raketen hätten von Westdeutschland aus in 15 Minuten Moskau erreicht und damit die Reaktionszeit für die sowjetische Militärführung dramatisch verkürzt. Millionen Menschen in Europa haben damals verstanden, dass diese Waffensysteme offensiv eingesetzt werden können und destabilisierend wirken. Dann kam der INF-Vertrag, hunderte Raketen und Sprengköpfe wurden verschrottet.

Ich schwelge nicht in der Vergangenheit, um zu erzählen, was wir damals für eine tolle Friedensbewegung hatten. Sondern, um darauf hinzuweisen, was wir nicht erreicht haben. Wir haben in den 90er Jahren nicht erreicht, dass alle Atomwaffen verschrottet worden wären. Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger glauben, die Abschreckung ist überholt, Atomwaffen sind out, kein Thema mehr.

Aber! Die Frontstellung zwischen West und Ost wurde beibehalten, seit dem Ende der Sowjetunion, es gibt sehr viel weniger Atomwaffen, aber sie sind immer noch gegeneinander gerichtet. Und es ist immer noch ist ein wesentlicher Faktor, welche Waffen wo stationiert sind und in welcher Zeit sie einen gegebenen geografischen Raum überwinden können, um ein Ziel zu erreichen. Das Verhältnis zwischen USA und Russland bzw der NATO und Russland war nie ein partnerschaftliches oder gar freundschaftliches Verhältnis. Nein, sie waren immer potentielle Kriegsgegner, potentielle Atomkriegsgegner, die sich gegenseitig atomar vernichten können.

Die Modernisierung und technische Verbesserung der Atomwaffenträger ist leider nicht im Blick der Öffentlichkeit. Und das ist ein wesentlicher Teil der Vorgeschichte des aktuellen Krieges.

Mit der Ost-Erweiterung der NATO war für Russland die Perspektive gegeben, dass die NATO immer mehr Truppen und eventuell auch Atomwaffen immer näher an russisches Staatsgebiet heranführt. Die militärische Logik hinter der Ost-Expansion der NATO: Wir sind überlegen, vom gesamten ökonomischen und militärischen Potential, alle osteuropäischen Staaten sind jetzt in der NATO. Wir halten Russland auf Abstand, aus deutscher Sicht. Die Front ist 1000 km weiter im Osten.

Die gleiche militärische Logik in russischer Sicht: Wir dürfen nicht zulassen, dass die Ukraine in die NATO kommt und damit der Militärapparat der NATO direkt an die russische Grenze rückt.

Zur aktuellen Debatte war jetzt ein Oberstleutnant a.D. Ulrich Scholz zu hören, der auch im Planungsstab im NATO-Hauptquartier gearbeitet hat, man hat ihn gefragt, welche Ziele der russische Präsident Putin verfolge? Ich zitiere:

“Präsident Putin will, dass die Ukraine nicht in die Nato kommt, sondern dass die Ukraine neutral bleibt. Bei den Verhandlungen vor dem Krieg hatte der Westen die Nato-Mitgliedschaft als nicht verhandelbar erklärt. Das ließ Putin nur noch die militärische Option. Wie es aussieht, wird ein Kompromiss genau darauf hinauslaufen. Bis auf Weiteres keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Den [Kompromiss] hätten wir auch schon vor dem Krieg haben können.“

Also: Wir, Deutschland, die NATO, sind keine unbeteiligten Beobachter, sondern Teil des Konflikts! Gehen wir einmal 12 Jahre zurück, ins Jahr 2010: Die NATO-Strategen hätten sagen können, wir sind in der überlegenen Position, alle osteuropäischen Länder sind jetzt in der NATO, Russland kann uns nicht gefährlich werden. Die Ukraine bleibt neutral, damit können wir gut leben. Aber die USA haben in den Folgejahren die Ukraine aufgerüstet, hunderte Millionen Dollar Militärhilfe hineingepumpt, und gemeinsame Manöver veranstaltet und die Ukraine so nebenbei und heimlich zum NATO-Partner aufgebaut.

Wir verurteilen den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine! Und wir fordern den Rückzug aller russischen Truppen!

Tja, aber nun, was tun? Wir können den Krieg nicht durch vernünftige Appelle beenden. Niemand kann Russland materiell zwingen, sich zurückzuziehen.

Wir sehen jetzt täglich die Zerstörungen in den Städten, oder weitgehend zerstörte Städte wie Mariupol. Ich verstehe natürlich den Wunsch die Heimat gegen eine russische Aggression zu verteidigen. Aber: wer eine Stadt militärisch verteidigen will, nimmt in Kauf, dass die Stadt zerstört wird. Wer eine Stadt erobern will, muss die Verteidiger herausbomben, so geschehen in Fallujah, Aleppo, Mossul, Grosny… oder im zweiten Weltkrieg, denken Sie an die Bilder von Stalingrad 1943 oder Berlin 1945.

Die militärische Verteidigung führt zur Selbstzerstörung. Ein pragmatisches Argument für den Pazifismus.

Ist der Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg? Was soll der gerechte Krieg, wenn auch im Falle eines militärischen Sieges alles kaputt ist? Die Alternative aus pazifistischer Sicht ist: Die militärische Verteidigung einstellen, die Waffen niederlegen und erklären: Wir verteidigen uns mit politischen, zivilen und gewaltfreien Mitteln. Auch ein militärischer Sieg wäre eine Katastrophe für die Ukraine!

Wofür kämpfen und sterben die Menschen in der Ukraine? Für das Recht, Mitglied der NATO werden zu dürfen? Die Neutralität hat die politische Führung schon akzeptiert. Für die Souveränität der Ukraine? Für die Freiheit, eine Generation lang für den Wiederaufbau zu schuften und ausländische Kredite zu bedienen?

Jetzt zur Frage: Wie reagiert Deutschland?

Meine Damen und Herren, die VeranstalterInnen des Münchner Ostermarsches lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine ab!

Wer Waffen liefert, verlängert den Krieg und vergrößert das Leiden der Menschen. Russland scheint die Waffenlieferungen derzeit noch zu akzeptieren. Aber so langsam und allmählich wird die NATO doch zur direkten Kriegspartei. Eine direkte Konfrontation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen wird denkbar. Sind wir gerade dabei, in den dritten Weltkrieg hineinzuschlittern? (Ich will nichts vorhersagen.) So wie wir in den ersten Weltkrieg hineingeschlittert sind?

Daher: Keine Waffenlieferungen an die Ukraine!

Plötzlich werden 100 Mrd Euro locker gemacht für weitere Aufrüstung. Dazu folgende Anmerkungen: Vom Jahr 2000 bis 2020 hat die Bundesrepublik Deutschland ca. 700 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgegeben. Was haben wir damit erreicht? Haben wir den Krieg gegen den Terrorismus gewonnen? 20 Jahre war die Bundeswehr in Afghanistan, und was haben wir erreicht? Haben wir damit diesen Krieg verhindert?

Bereits im Koalitionsvertrag haben die Parteien der Ampel-Koalition vereinbart, die Rüstungsausgaben zu steigern, auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das bedeutet die Rüstungsausgaben von derzeit ca 47 Milliarden Euro auf ca. 70 Milliarden Euro zu steigern. Das war also bereits beschlossen, allerdings ohne eine Aussage wie das finanziert werden soll.

Was will man damit erreichen? Welche Fähigkeiten soll die Bundeswehr erhalten? Wollen wir wieder eine Bundeswehr mit 500 000 Soldaten und 3000 Kampfpanzern, wollen wir in die Ukraine einmarschieren um Russland wieder rauszuwerfen? Was heißt das, die Ostflanke stärken? NATO-Truppen und Stützpunkte nach Osten verlagern? Dort neue Atomraketen stationieren? Das bedeutet die Konfrontation weiter zu treiben und den nächsten größeren Showdown vorzubereiten.

Eigentlich unnötig zu sagen: Diese Ausgaben stehen natürlich in Konkurrenz zu den Sozialausgaben, zur notwendigen Erhaltung der Infrastruktur und natürlich zu den notwendigen Investitionen zur Begrenzung der Erderwärmung.

Meine Damen und Herren, mit dem heutigen Ostermarsch treten wir ein für eine neue Entspannungspolitik, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten berücksichtigt,

wir treten ein für die Stärkung der OSZE,

wir treten ein für Abrüstung statt Aufrüstung,

für den Abzug der US- amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland,

für den Beitritt der BRD zum Atomwaffen-Verbotsvertrag,

wir treten ein für humanitäre Hilfe und zivile Konfliktbearbeitung,

wir wenden uns gegen das 100-Milliarden-Euro Waffenprogramm der BRD.

Wir wollen gemeinsame Sicherheit statt Konfrontation.

Wir brauchen mehr Pazifismus im Lande, aber der Pazifismus muss sich besser organisieren um politische Wirksamkeit zu erlangen.

Tommy Rödl, München, den 16. April 2022